Kritische Perspektiven auf den Lagebericht „Rassismus in Deutschland“

Auf der Sitzung des Hauptausschuss des Landesjugendring MV am 26. Juni 2023 wurde der Lagebericht „Rassismus in Deutschland“ vorgestellt. Die SJD – Die Falken MV möchten folgende kritische Perspektiven auf den Lagebericht einbringen.

Wir Falken MV haben anlässlich des 30. Jahrestags des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen mit dem Thema institutioneller Rassismus und rassistische Gesetze beschäftigt.

Wir stellen außerdem jugendpolitische Handlungsbedarfe mit Erläuterungen zu rassistischer Gesetzgebung und aus unserer Sicht notwendige Positionen des Landesjugendring dar. Aus unserer Sicht macht es aktuell Sinn, diese Positionen auch in die Enquete-Kommission „Jung sien in MV“ des Landes zu vertreten.

Leerstelle im Lagebericht: Rassistische Gesetze

Der Lagebericht spricht viele wichtige Probleme und Handlungsfelder an. Er entbehrt allerdings einer Bestandsaufnahme hinsichtlich institutionellem Rassismus in der deutschen Gesetzgebung. Recht und Gesetz strukturieren den Alltag der Gesellschaft und legen ggf. grundlegende Mechanismen der Ungleichbehandlung fest. Dies geschieht im deutschen Rechtssystem insbesondere im Bereich Asyl- und Aufenthaltsrecht, wo regelhaft eine Schlechterstellung von Migrant:innen, Asylsuchenden, Geduldeten und Geflüchteten geschieht.

Diese inhaltliche Lücke im Lagebericht Rassismus ist besonders frappierend, weil die Bundesregierung, die den Bericht beauftragt hat, damit dasjenige Feld ausklammert, in dem sie selbst durch entsprechende Gesetzgebung sofort gegensteuern könnte. Geflüchtetenfeindliche Haltungen sind ein zentraler Mobilisierungspunkt rechter Ideolog:innen. Wo sich diese Haltungen in deutschen Gesetzen wiederfinden, sehen sich Rechte im Recht.

Beispiel aus dem Lagebericht:

Im Kapitel zu institutionellem Rassismus wird richtigerweise die schlechte und unzureichende medizinische Versorgung von Asylsuchenden und Geduldeten durch das Asylbewerberleistungsgesetz beschrieben. Als vermeintliche Lösung steht der Vorschlag bundesweit eine Krankenkassenkarte für alle einzuführen, da so die Schlechterstellung verringert werden könne. Die Idee der Krankenkassenkarte für alle kommt aus zivilgesellschaftlichen solidarischen Bewegungen, die dies als pragmatische Lösung bis zur tatsächlichen Abschaffung der Schlechterstellung betrachten. Denn die Krankenkassenkarte erweitert keineswegs den Leistungsumfang, der Asylsuchenden zusteht, sondern umgeht lediglich die Sozialämter als bedarfsfestellende Behörden, die in ihre Abwägungen stets Kostenerwägungen mit einbeziehen.

Um aber tatsächlich den institutionalisierten Rassismus, der hinter der Schlechterstellung in der Gesundheitsversorgung steht („Flüchtlinge kommen nur wegen dem Geld“), müsste aber das AsylbLG abgeschafft werden.

Jugendpolitische Handlungsbedarfe

Rassistische Gesetze betreffen Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bis zum 27. Lebensjahr genauso wie Erwachsene. Der Landesjugendring MV als Interessenvertretung junger Menschen in MV trägt eine Verantwortung die Ungleichbehandlung und die daraus resultierende Diskriminierung und Verschlechterung der Lebenschancen der betroffenen jungen Menschen immer wieder öffentlich anzukreiden und politisch für die umfassende Gleichstellung zu kämpfen.

Der Landesjugendring sollte deswegen insbesondere in folgenden Bereichen der rechtlichen Schlechterstellung von geflüchteten und migrantischen Kindern und Jugendlichen Beachtung schenken:

Schulpflicht für Kinder und Jugendliche in den Erstaufnahmestellen in MV

Die vorhergehende Landesregierung unter SPD und CDU hat während der Überarbeitung des Landesschulgesetzes Kinder und Jugendliche in den Erstaufnahmestellen des Landes von der Schulpflicht ausgeschlossen. Dies muss umgehend geändert werden. Kinder und Jugendliche auf der Flucht haben oft über Jahre keinen Zugang zu formaler Bildung. Der Zugang muss hier in Deutschland umgehend nach der Ankunft gewährt werden.

Dezentrale Unterbringung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene

Das Asylgesetz sieht die stigmatisierende Unterbringung von Asylsuchenden und Geduldeten in Sammeleinrichtungen vor. Die Umsetzung obliegt den Ländern und Kommunen. Die Verordnung des Landes zur Unterbringung außerhalb der Einrichtungen in dezentralen Wohnungen muss umgehend dahingehend geändert werden, dass Ausnahmen für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zur Regel werden. Sammelunterkünfte sind keine geeigneten Lebensorte für junge Menschen. Junge Migrant:innen erleben in MV täglich Rassismus, der nicht durch das Stigma „Flüchtlingsheim“ institutionell verfestigt werden sollte. Fehlende Privatsphäre und ständiger psychischer Stress erschweren den Weg ins Erwachsenenleben. 

Leistungsrechtliche Gleichstellung

Das Asylbewerberleistungsgesetz ist ein rassistisches Parallelgesetz, demnach Asylsuchende und Geduldete nur etwa 70% des Existenzminimums erhalten, in den Erstaufnahmeeinrichtungen sogar noch weit weniger. Sie sind zudem von regulärer Gesundheitsversorgung ausgeschlossen. Die Landesregierung muss umgehend die „Krankenkassenkarte für alle“ einführen, restriktive Auslegungen beenden (bspw. die ausbleibende Umstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG, wenn Betroffene ein Dublin-Verfahren hatten oder die ausbleibende Umstellung der Leistungen für Menschen in Sammeleinrichtungen auf Bedarfsstufe 1 entsprechend dem BVerfG-Urteil von Oktober 2022) und Zugänge automatisieren (bspw. die Umstellung auf Leistungen nach § 2 AsylbLG) und sich auf Bundesebene für eine umfassende Gleichstellung im Sozialleistungsbezug einsetzen (Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!).

Gleichstellung beim Kindergeld

Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Aufenthaltsgestattung, Duldung, Abschiebeverbot und Aufenthalt nach EU-Freizügigkeitsrecht sind im Recht auf Kindergeld insofern schlechter gestellt, dass sie mehrmonatige Wartezeiten bis zum Bezug von Kindergeld haben oder dieses (abhängig vom jew. Aufenthaltstatus) den Eltern auf die Sozialleistungen angerechnet wird. Den betroffenen Kindern steht somit monatlich ungemein weniger Geld zur Verfügung als anderen Kindern, was Armut verschärft und verfestigt.

Außerdem

Euch fallen weitere rasssistische Gesetze ein, an die wir nicht gedacht haben? Schreibt uns!

Notwendige Positionen des Landesjugendrings

Die SJD – Die Falken MV möchten als aktive Mitglieder des Landesjugendring folgende Positionen für den Landesjugendring hinsichtlich der genannten jugendpolitischen Handlungsbedarfe anregen. Diese könnten beispielsweise in der Enquete-Komission „Jung sein in MV“ offensiv vertreten werden.

Das Feld aufklären!

Die Landesregierung muss regelmäßig eine Datengrundlage veröffentlichen, an der Verbände und Wohlfahrtsorganisationen ihre Angebote ausrichten können. Dies umfasst beispielsweise valide Zahlen darüber, wie viele Kinder und Jugendliche in den jew. Landkreisen bzw. Aufnahmeeinrichtungen in Mecklenburg-Vorpommern leben und von diskriminierender Schlechterstellung durch rassistische Gesetze betroffen sind.

Rassistische Gesetze müssen sofort abgeschafft werden!

Die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern muss hierfür alle Mittel ausschöpfen, beispielsweise Initiativanträge im Bundesrat stellen oder in den entsprechenden parlamentarischen Arbeitsgruppen und Ausschüssen auf die konsequente Abschaffung (nicht Abmilderung) rassistischer Gesetze drängen.

Spielräume ausreizen!

Die Landesregierung und ihr unterstellte Ministerien müssen im bestehenden Rahmen alle Möglichkeiten nutzen, um die rechtliche Schlechterstellung migrantischer Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener möglichst abzuschwächen. Dies umfasst entsprechende progressive Weisungen und Dienstvorschriften an die zuständigen Ämter und Behörden.

Progressive Regelungen auf Landesebene finden!

Die Landesregierung muss umgehend rassistische Regelungen abschaffen, die in ihrem föderalen Einflussbereich liegen, beispielsweise die fehlende Beschulung in den Aufnahmeeinrichtungen.

 

Freundschaft!

SJD – Die Falken MV