Gedenken an den Todesmarsch und dessen Befreiung in Raben Steinfeld

Während unseres Landestreffens haben wir in diesem Jahr an die Opfer und Überlebenden der Todesmärsche von Sachsenhausen und Ravensbrück nach Raben Steinfeld gedacht. Etwa 18.000 Menschen wurden unweit unseres Tagungsortes am 2. Mai 1945 befreit.

„Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.
Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“
aus “Erziehung nach Auschwitz” von Theodor W. Adorno

Das Ende eines Todesmarsch in Mecklenburg am 2. Mai 1945

An der Bundestraße 321, in Raben Steinfeld, einem Tausend-Seelen-Ort zwischen Crivitz und Schwerin, liegt die Gedenkstätte „Die Mutter“, die an die Befreiung von Todesmärschen aus den KZ Ravensbrück und KZ Sachsenhausen erinnern soll.

Am frühen Morgen des 2. Mai 1945 erreichte eine Panzerbrigade der 2. belorussischen Front unter Marschall Rokossowski die Störkanalbrücke in Raben Steinfeld und stieß hier auf die Überreste eines Todesmarsches. Etwa 18.000 Überlebende wurden in Raben Steinfeld und in den umliegenden Wäldern durch die Rote Armee befreit.

Einer der Todesmärsche war am 21. April 1945 in Sachsenhausen bei Oranienburg, nördlich von Berlin gelegen, mit ca. 33.000 KZ-Insass*innen gestartet. In dem 10-tägigen Fußmarsch über eine Strecke von ca. 200 Kilometern verloren über 6.000 Menschen ihr Leben, jeden Tag des Marsches etwa 600 Menschen. Sie wurden während des Fußmarsches von SS-Wachen erschlagen oder erschossen. Sie brachen vor Entkräftung, durch Hunger und Krankheit einfach zusammen und blieben am Wegesrand liegen. Jeden Tag des Marsches etwa 600 Menschen. In jeder Stunde also etwa 25 Tote.

Nur wenige Stunden nach der Befreiung der KZ-Häftlinge durch Rotarmisten an der Brücke in Raben Steinfeld, die nur 10 km vom Schweriner Stadtzentrum entfernt liegt, rücken um die Mittagsstunden des 2. Mai 1945 Soldaten der 8. Amerikanischen Infanteriedivision von Westen in die Stadt Schwerin ein. Die Division gehörte zur 21. Anglo-Amerikanische Heeresgruppe unter Führung des Feldmarschalls Montgomery. Sie übernahm die Stadt mit 60.000 Einwohner*innen kampflos. Wenig später treffen amerikanische und russische Soldaten aufeinander. Die Störbrücke in Raben Steinfeld wird zur vorläufigen Demarkationslinie der beiden alliierten Streitkräfte. Schwerin bleibt bis zum 1. Juni amerikanisch verwaltet, dann einen Monat unter britischem Mandat und gehört schließlich ab dem 1. Juli 1945, gemäß den Beschlüssen der Konferenz von Jalta, zur russischen Besatzungszone.

Die ca. 18.000 Menschen, die in Raben Steinfeld und Umgebung Anfang Mai 45 befreit wurden, bilden nur einen kleinen Teil der Todesmarsch-Karawanen ab. Neben den über 30.000 KZ-Insass*innen aus dem KZ Sachsenhausen, starten am 27. April weitere 20.000 Menschen aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Die Auflösung der KZ durch die Nazis im Rest des Deutsches Reiches zwischen Dezember 1944 und April 1945 mittels dieser Todesmärsche kostete hunderttausende Menschen noch das Leben. Entkräftet in den Lagern. Ermordet auf den Märschen. Verhungert im Wald.

Die Todesmarschkolonnen wurden meist in Marschblöcken von etwa 500 Personen in den Lagern losgeschickt. Pro Tag wurden 20 bis 40 km zurückgelegt. Geschlafen und kampiert wurde unter freiem Himmel. Die Kolonnen zogen auch durch Dörfer und Städte. Sie begegneten fliehenden deutschen Familien aus dem Osten und fliehenden Wehrmachtseinheiten. Zu Tausenden quälten sich die Menschen durch Straßen und Wälder. Mitunter vereinigten sich Todesmarschgruppen und zogen dann in endlosen Kolonnen durch die Lande. Jede/r konnte sie sehen! Völlig unzureichend gekleidet und ernährt, von der KZ-Haft geschwächt, schleppten sich tausende Häftlinge unter den Augen der Bevölkerung durch Nordbrandenburg und Mecklenburg. Allein durch Wittstock, eine mittelgroße Stadt und Knotenpunkt zugleich, müssen tausende KZ-Insass*innen gezogen sein.

Im Belower Wald, nördlich von Wittstock, war ein Todesmarschtreck aus Sachsenhausen auf etwa 16.000 Menschen angewachsen. Die SS richtete deshalb vom 23. bis 29. April mitten im Belower Wald ein provisorisches Lager ein, wo die Häftlinge kampierten, während nördlich vom Wald der Treck aus Ravensbrück vorbeizog, bzw. unweit im KZ-Außenlager Malchow kampierte. Die Kolonnen wurden weiter gen Norden getrieben und so vereinigten sich schließlich rund um Crivitz, 10 km östlich von Raben Steinfeld, abermals verschiedene Todesmarschtrecks. Es waren Kolonnen mit KZ-Insass*innen aus Sachsenhausen und Ravensbrück, jenen 18.000 Menschen, die rund um Raben Steinfeld ihre Befreiung fanden. Ein weiterer großer Treck zog nach Ludwigslust (ca. 40 km südlich von Raben Steinfeld) und fand dort rund um das KZ Wöbbelin, ein Außenlager des KZ Hamburg Neuengamme, seine Befreiung. Man kann also davon ausgehen, dass im westlichen Mecklenburg zehntausende Todesmarschkandidat*innen das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebten. Doch auch tausende Leichen lagen in den umliegenden Wäldern auf den zurückgelegten Strecken. Die Auflösung dieser Trecks vollzog sich schleichend. Oft standen die Menschen irgendwann einfach völlig verlassen in einem Wald, wenn die SS-Schergen beschlossen hatten, dass nun ein guter Zeitpunkt wäre, um sich selbst abzusetzen.

Die Bezeichnung „Todesmarsch“ wurde im Nachhinein von den Opfern geprägt und ist in der wissenschaftlichen Literatur ein geläufiger Begriff geworden. Die Todesmärsche! Jener Wahnsinn der Menschenverachtung ist in seiner logischen Ableitung nichts anderes als die konsequente Fortführung des Holocaust bis zur letzten Minute des Krieges. Die Häftlinge wurden ja nicht zurückgelassen in den Lagern. Man schickte sie los, um sie im Zweifel im Sinne der industriellen Vernichtung möglicherweise an anderer Stelle weiter zu Tode ausbeuten zu können. Und jedes auf dem Weg dorthin verlorene Menschenleben ist kalkuliert im Sinne der Blut-und-Boden-Ideologie und der arischen Vorherrschaftsfantasien der Nazis. Dies wirkt damals wie heute! Ob in der SS oder beim NSU!

Bereits in den 50-er Jahren wurde an der Brücke in Raben Steinfeld ein schlichter Gedenkstein aufgestellt, der an jenen Todesmarsch, der dort endete, erinnert. Im Rahmen des staatlichen Gedenkens zu DDR-Zeiten wurde der Mahn- und Gedenkort am 8. September 1975 um eine Plastik und wenig später um vier Reliefplatten ergänzt. Die Bronzeplastik stammt vom Bildhauer Gerhard Thieme aus Berlin und trägt den Titel „Die Mutter“. Irritiert suchen wir nach einer Erklärung. Welche Mutter? Das Portal Reiseziele in MV weiß zu berichten: „Die Mutter steht seitdem für das namenlose Leid der Mütter aller Nationen.“

Welche Mutter? Jene, die ihrem Führer bis in den Tod folgen wollte und sich hinterher wunderte, dass ihr Abendbrottisch von Vater und Söhnen verwaist blieb? Jene Mutter, die ihrem Pimpf die HJ-Buxen flickte und Stullen schmierte, damit dieser sich weiter wehrsportlich ertüchtigen konnte? Oder jene Mutter, die in den Apriltagen schweigend hinter der Gardine zusah, wie tausende halbtote Gestalten durch Mecklenburg zogen und Gras fraßen?

Die Mutter! Das Denkmal mag stehen für das Leid, welches Mütter überall auf der Welt ertragen (müssen). Damals wie heute! Ob im Krieg oder im Kapitalismus. Ob als Ausgebeutete oder Missbrauchte. Doch in Raben Steinfeld sind Täter und Opfer klar zu benennen. Hier bedarf es keiner Pauschalisierung! Es waren deutsche Väter und Mütter, die sich im nationalen Rausch zu Bluttaten treiben ließen und einen ganzen Kontinent mit über 50 Millionen toten Menschen in Schutt und Asche legten. Auch wenn so viele unserer Großeltern und Urgroßeltern nachwirkend oft berichteten, davon nichts gewusst zu haben. Davon, dass -zig Tausende, ja Millionen mit ihrem Leben zahlen sollten und mussten. Sie alle, Großeltern und Urgroßeltern, sie haben gelogen! Sie sahen die zerschlagenen Geschäfte der Juden und Jüdinnen. Ja, sie sahen sogar die Deportationen! Sie hörten von erschlagenen Kommunist*innen und Sozialist*innen. Sie sahen die deutsche Wochenschau im Kino mit martialischen Kriegsgeräten und heroischen Berichterstattungen über gewonnene Gebiete, zerstörten Städten und geschlagene Armeen. Sie erlebten die Zwangsarbeiter*innen hautnah. In den Betrieben und in der Landwirtschaft. Sie alle wussten, was Phase war! Ja, sie sahen sogar zum Ende schweigend die Todesmärsche an ihren Fenstern vorbeiziehen. Unsere Vorgängergeneration will womöglich nichts gesehen und mitbekommen haben. Doch wir bleiben dabei: Sie haben es alle gewusst! Deutschland ist das Land der Täter. Und auch die deutschen Mütter waren dabei.

Nie wieder Faschismus!
Kampf dem Nationalismus!

Dieser Text wurde von Steffen Wiechman für eine Gedenkveranstaltung vom Chor ROTER HERING im März 2019 in Raben Steinfeld verfasst. Abgeändert wurde er für die Gedenkveranstaltung der Sozialistischen Jugend – Die Falken Mecklenburg Vorpommern im Rahmen ihrer Landeskonferenz am 20. November 2021 in Raben Steinfeld.