Unser Statement für die Enquete-Kommission: Jugendverbände stärken!

Jugendverbände stärken! – Hier findet ihr unser Statement für die Enquete-Kommission „Jung sein in MV“ zum Themencluster Formale und nonformale Bildung.

Jugendverbände stärken!

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir Falken MV möchten uns gerne mit einer Stellungnahme im Themenkomplex „Formale und nonformale Bildung“ in die Ausarbeitungen der Enquete-Kommission einbringen. Wir möchten hier unter dem Motto „Jugendverbände stärken!“ ausführen, warum sowohl die Fragen der Kommission an die Vertreter:innen der Kinder- und Jugendgremien, die die Kommission ausformuliert hat, als auch das allgemein vorherrschende Bild von Beteiligung und Jugendpolitik viel zu kurz greifen. Wir führen dies im vollen Bewusstsein an, dass die Enquete-Kommission als Gremium nicht auf alle genannten Punkte direkten Einfluss hat. Wir erachten gerade angesichts des aufklärenden Charakters der Kommission aber eine breite Einordnung der Interessen junger Menschen in die gesellschaftlichen Verhältnisse für wichtig.

Jugendverbandsarbeit bewegt sich im Sektor der nonformalen Bildung. Nonformale Bildung macht im Jugendalter etwa 60-70% dessen aus, was wir lernen[i], unabhängig davon ob sie innerhalb von Verbänden, Sporteinrichtungen, sozialen Bezugsgruppen, Familie, usw. stattfindet. Nonformal lernen wir Vieles, was unsere individuelle Entwicklung angeht, wir lernen aber auch – oder eben nicht – uns als Teil der Gesellschaft zu begreifen und wie wir in dieser wirksam werden können. Dieses Wirksamwerden lernen wir in Jugendverbänden, die Orte unserer Selbstorganisation, gemeinschaftlicher Gestaltung und Mitverantwortung sind (vgl. §12 SGB VIII). Wir werden hier nicht nur beteiligt, wir organisieren uns selbst.

Jugendverbandsarbeit ist Demokratieerziehung

Leider ist die Wichtigkeit der Jugendverbandsarbeit in den letzten Jahrzehnten gesamtgesellschaftlich in Vergessenheit geraten. Es hat sich ein Bildungsverständnis durchgesetzt, das auf Leistung (gute Noten) und hohe Bildungsabschlüsse abzielt, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können. Dadurch entsteht ein enormer Leistungsdruck[ii] auf Schüler:innen. Die Lerninhalte sind größtenteils altbacken und haben oft wenig mit der Lebensrealität von jungen Menschen zu tun.

Auch Demokratie wird in der Schule als klar abgrenzbarer Sachlernverhalt begriffen, der auf wenige Stunden Sozialkundeunterricht und rein formale parlamentarische Prozesse und Strukturen verkürzt wird. Wie uns zunehmende Zustimmungswerte für autoritäre Parteien und Meinungen deutlich machen, ist dieses rein formale Wissen nicht ausreichend, um junge Menschen zu Demokrat:innen zu erziehen. Wir verwenden hier bewusst den Begriff „erziehen“, denn es darf unserer Meinung nach nicht die Option geben, dass Menschen sich aufgrund eines falsch verstandenen Neutralitätsgebotes gegen eine demokratische Haltung entscheiden. Um uns für eine demokratische Haltung zu entscheiden, müssen wir Demokratie erproben und uns in demokratischen Prozessen als selbstwirksam erleben.

Die nonformalen Bildungsprozesse in Jugendverbänden sind genau solche Demokratieerziehung. Wir meinen damit nicht die Inhalte oder das Sachwissen, die in den Verbänden vermittelt werden. Wir meinen explizit die Kompetenzen, die wir uns in Jugendverbänden aneignen, um unsere eigenen Interessen zu vertreten. Diese Kompetenzen sind zB: Konfliktfähigkeit, langfristige Verbindlichkeit & Durchhaltevermögen, die Integration anderer Standpunkte in die Praxis des Engagements, die Übernahme von Verantwortung für sich und Andere als Jugendgruppenleiter:in, sowie die Arbeit in Verbandsgremien (Vorstandsarbeit, Arbeit als Delegierte in verschiedenen Verbandsgremien auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene usw. Diese Kompetenzen sind fundamental wichtig für die erwachsenen Menschen, die aus uns werden, um mit ihnen diese Gesellschaft als demokratische Gesellschaft zu erhalten und zu gestalten. Wir lernen in Jugendverbänden, dass es wichtig ist, sich auf verschiedensten Ebenen für die eigenen Belange und die Belange derjenigen einzusetzen, die sich nicht selbst dafür einsetzen können.

Und nun kommt der Knackpunkt: Die genannten Kompetenzen lernen wir nicht in der Schule, also im Rahmen formaler Bildungssettings. Denn Schule ist ein durch und durch von Erwachsenen regulierter und kontrollierter Raum. Die täglichen Entscheidungen treffen Erwachsene. Die wichtigen Entscheidungen treffen Erwachsene. Bei jeder denkbaren Form unsere Vorschläge einzubringen (ob mit Unterschriftenlisten, als Klassensprecherin oder als Schüler:innenrat), haben Erwachsene die letzte Entscheidung darüber, ob unsere Ideen und Wünsche umgesetzt werden. Im Raum Schule lernen wir, dass unsere Interessen immer hinter den Interessen derjenigen zurückstehen werden, die in gesellschaftlich machtvolleren Positionen sitzen. Und nicht wenige von uns geben aufgrund solch frustrierender Erfahrungen auf, ihre Positionen in der Schule einzubringen. Diese Müdigkeit davon in formalen Prozeduren an demokratischen Prozessen „beteiligt“, aber letztendlich nicht gehört zu werden, beobachten wir Falken auch gesamtgesellschaftlich.

Wir brauchen deswegen Orte der Selbstorganisierung, wie Jugendverbände sie sind. Wir brauchen die Jugendverbände als dezidiert selbstverwaltete Orte, in denen wir verschiedene Wege uns in der Gesellschaft Gehör zu verschaffen, erproben können. Wir brauchen diese Räume als weitgehend von Erwachsenen freie Räume. Demokratie muss Spaß machen. Sie muss sich wirksam anfühlen. Wir müssen uns darin wirksam fühlen. Wir müssen darin Fehler machen, und bilden, unseren Interessen folgen, unsere eigenen Worte verwenden, uns gegenüber der Welt positionieren.

Selbstorganisierung ist das Fundament der Gesellschaft

In Jugendverbänden lernen wir im nonformalen Bildungsbereich genau die Dinge, die uns interessieren. Diese Dinge sind sehr unterschiedlich: Manchmal sind sie explizit politisch, manchmal sind sie einfach nur Grundlage einer guten und sicheren Gesellschaft, wie unser Engagement bei der Jugendfeuerwehr oder als Rettungsschwimmer:innen.

Dieses frühe Interesse jenseits von Verwertungs- und Karrierelogik ist das Fundament all derjenigen Berufe im Care-Bereich, die Herzblut und Überzeugung bedürfen. Wer in der Jugendfeuerwehr engagiert war, wird oft auch in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv. Wer schon selbstsicher im Jugendrotkreuz im Einsatz war, ist offener für eine Berufswahl im Rettungsdienst. Ferienfreizeiten mit Kindern und Jugendlichen zu gestalten, war für Viele in unserem Verband die „Einstiegsdroge“, um später einen pädagogischen Beruf zu ergreifen. Und ganz praktisch: Es senkt die Hemmschwelle diese Berufe auzuüben, wenn man bereits weiß, dass man sie wuppen kann, weil man das Arbeitsfeld einschätzen kann und grundlegende Kompetenzen darin hat. Keine Berufsberatung der Welt kann das leisten.

Gesellschaft funktioniert nur, wenn Menschen bereit sind, konstant Leidenschaft und Energie für andere Menschen aufzuwenden. Gesellschaft funktioniert nicht in klar abgegrenzten SMARTen Projektvorhaben. Die derzeit vorherrschenden Programme zur Jugendbeteiligung suggerieren aber genau das. Bis zum Datum X Thema Z bei Entscheidungsträger:in Y einbringen, angeleitet von Sozialarbeiterin oder Lehrkraft – und fertig. Aber nichts ist fertig, wenn man es einmal ausgesprochen hat.

In Jugendverbänden lernen wir Selbstorganisierung und Verantwortung. Beides ist das Fundament einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft.

Jugendpolitik ist Politik, die Jugendliche betrifft

Bei Jugendbeteiligung geht es gemeinhin um sog. Jugendpolitik. Das Verständnis davon, was Jugendpolitik ist, nehmen wir als sehr verkürzt wahr. Meistens geht es entweder darum, junge Menschen in der ein oder anderen Weise zu regulieren (je nach politischer Position der erwachsenen Sprecher:innen wahlweise Polizeistreifen oder Sozialarbeiter:innen an den öffentlichen Orten, die wir nutzen) oder um das Geld, das für diese Regulierung aufgewendet werden muss.

Was damit selten gemeint ist, ist all jene Politik, die uns direkt betrifft und fundamental unseren Alltag und unsere Lebenschancen bestimmt: Das viel zu niedrig angesetzte Bürgergeld oder die beschämende Existenz des rassistischen Asylbewerberleistungsgesetzes; die Grundrechtsverletzungen der Polizeigesetzverschärfungen der letzten Jahre, zB im SOG-MV; der fehlende Ausbau des ÖPNV; rasant kletternde Mietpreise statt enthusiastischem öffentlichem Wohnungsbau; die Millionen Toten, mit denen wir weltweit rechnen müssen, weil die Klimakatastrophe seit Jahrzehnten kleingeredet oder ignoriert wird. Und. So. weiter.

Beteiligungsformate, wie sie derzeit gängig sind, greifen in den allermeisten Fällen viel zu kurz, denn sie sind meist auf minimaler Ebene angesetzt. Als ginge unser Interesse nicht über das Schulhaus, den Stadtteil oder die Stadt hinaus, in der wir lernen und leben. Wir wollen über Zukunft reden. Nicht erst seit 2015 schreien wir das buchstäblich auf der Straße. Wir wollen darüber nicht pseudo auf minimaler Ebene rumlabern. Wir wollen eine Gesellschaft, die Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle von uns schafft.

Jugendbeteiligung für eine sozial gerechtere Zukunft

Folgendes ist eine These, die sich aus Beobachtungen der bei uns aktiven Jugendlichen ableitet und die empirisch überprüft werden sollte: Jugendbeteiligung in der aktuell forcierten Form begünstigt Jugendliche aus bestimmten sozialen Milieus. Die gängigen Beteiligungsformate sprechen keineswegs alle jungen Menschen gleichermaßen an. Zumeist finden Kinder und Jugendliche aus bürgerlichen und damit finanzstarken Familien viel leichter den Zugang in Gremien wie Schüler:innenräte, Jugendparlamente, Fragerunden im Jugendhilfeausschuss, Formate wie „Jugend im Landtag“ o.a.

Dies liegt keineswegs am mangelnden Interesse ärmerer oder anderweitig marginalisierter Jugendlicher, ihre Interessen irgendwo zu vertreten. Es liegt vielmehr am mangelnden Verständnis der Beteiligungsräume schaffenden Institutionen darüber wie Art und Form demokratischer Beteiligungsstrukturen Menschen bevorteilen, die bestimmte Kompetenzen mitbringen, die in bürgerlichen Milieus verstärkt vorzufinden sind. Empirisch zu überprüfen wäre, inwiefern diese Beteiligungsformate zu einer Milieuverengung bei der Beteiligung führen und wie sich dies langfristig betrachtet auf ungleiche Beteiligung in demokratischen Prozessen ausübt, welchen Einfluss es also auf das Demokratieverständnis allgemein hat, wenn in der nonformalen Demokratiebildung im Jugendalter nicht alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen angesprochen werden. Das Ergebnis zeigt sich zB im überproportionalen Anteil an Akademiker:innen im Bundestag oder an der Abnahme der Wahlbeteiligung in niedrigeren Einkommensgruppen.[2]

Jugendverbände können diesen Bias ausgleichen. Denn Jugendverbände sprechen mit ihren vielfältigen Aktionsfeldern junge Menschen auf sehr verschiedenen Ebenen an. Wie die Studie „Jugendverbandsstudie – Zur kompensatorischen Bedeutung von Jugendverbänden als Bildungsorte“ zeigt, sind die Verbände jeweils für unterschiedliche Milieus Orte für Gemeinschaftserfahrungen, Bildung, religiöse und/oder weltanschauliche Positionierung, weitergehende Sozialisation im Spannungsfeld mit der eigenen Herkunft, aber auch Orte der „Gegenwelterfahrung“ und Schonraum von den Anforderungen der Erwachsenenwelt.[iii] Jugendverbände bieten damit den Raum, ausgehend von der dort stattfindenden Selbstorganisierung, an demokratischen Prozessen teilzunehmen (aktiv: teilzunehmen, nicht passiv: beteiligt zu werden).

Gerade weil sie sehr unterschiedlich sind, sprechen Jugendverbände sehr unterschiedliche Jugendliche an. In der Summe ermöglichen sie so einem viel breiteren Spektrum junger Menschen das Erlernen von Kompetenzen und Wissen rund um Selbstorganisierung. Wenn heute junge Menschen mit möglichst vielen sozialen Hintergründen ihre Perspektiven einbringen können, wird die Gesellschaft der Zukunft eine sozial gerechtere Zukunft sein.

Nonformale Bildung in Jugendverbänden stärken!

Aus all den genannten Gründen ist es wichtig, Jugendverbände zu stärken, denn sie sind Orte der nonformalen Bildung und Demokratieerziehung. Dafür braucht es aus unserer Sicht folgendes:

  • Die wichtige gesellschaftliche Funktion von Jugendverbänden als Ort der Demokratieerziehung und Fundament der Kompetenzbildung für Selbstorganisierung und Engagement muss wieder stärker ins gesellschaftliche und politische Bewusstsein rücken (vgl. Positionspapier „Jugendverbände machen Bildung – und noch viel mehr“ des Deutschen Bundesjugendring).
  • Das Verständnis von Demokratieerziehung und Jugendbeteiligung muss sich ändern. Es geht nicht um klar abgrenzbar zu vermittelnde Sachlerninhalte oder Gesprächsformate. Es geht darum, sich langfristig für die eigenen Interessen einzusetzen. Politik kann hierfür einen Rahmen schaffen, indem zB die Selbstorganisierung in Jugendverbänden an den Schulen in MV problemlos als Wahlpflicht anerkannt wird (vgl. Positionspapier „Zur Kooperation von Ganztagsschulen und Jugendverbänden“, des Landesjugendring MV) oder sogar eine gesetzliche Regelung zur Freistellung für das Engagement im Landesschulgesetz getroffen wird.
  • Eine ordentliche Ausfinanzierung der Jugendverbandsarbeit. Wir meinen hier vorrangig eine tatsächliche Ausfinanzierung des Landesjugendplans, um die kontinuierliche Förderung für die Umsetzung von Maßnahmen sicherzustellen und damit die Teilnahme für Kinder und Jugendliche aus allen sozialen Schichten möglich zu machen.

Freundschaft!

[i]Wins, M.; Schiemann, S.; Rühmling, M.; Knabe, A.; Waschkewitsch, L. (2023): Lebenssituation junger Menschen in Mecklenburg-Vorpommern. Wissenschaftliches Grundlagenpapier. Rostock: Rostocker Institut für Sozialforschung und gesellschaftliche Praxis e.V. (Hrsg.).

[ii]https://www.deutschlandfunk.de/forsa-umfrage-psychologin-druck-auf-schueler-hat-zugenommen-100.html

[iii]„Jugendverbände als Bildungsorte im >Feld des Übergangs<“, Bremer und Kleemann-Göhring, 2021

Foto: Bildwerk Rostock (flickr)

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