Recht auf Beteiligung! – Kinder im Asylverfahren in Mecklenburg-Vorpommern

Am 20. November ist der Internationale Tag der Kinderrechte. Aus diesem Anlass haben wir uns etwas genauer mit den Kinderrechten in der Erstaufnahmestelle Nostorf-Horst beschäftigt. Wir sind dort derzeit einmal im Monat mit Pro Bleiberecht mit Kinderprogramm am Start. Zu diesem Thema haben wir auch für die Kundgebung “No Lager! Bewegungsfreiheit für alle” am 19. November einen Redebeitrag verfasst.

Wir Falken MV waren im September, Oktober und sind auch wieder im November bei den Mahnwachen „Gegen Ausgrenzung und institutionellen Rassismus“ von Pro Bleiberecht vor dem Erstaufnahmelager* Nostorf-Horst dabei. Wir haben dort mit Kindern gebastelt, gespielt und Einblicke in den Beginn ihres Asylverfahrens erhalten. Unsere Gedanken dazu möchten wir hier festhalten.

Alltag in Aufnahmeeinrichtungen

Viele von euch kennen vielleicht die Situation in Horst nicht, deswegen hier ein paar Fakten:

  • In der Einrichtung stellen Asylsuchende** ihre Asylanträge beim „Bundesamt für Migration und Flüchtlinge“ (BAMF).
  • Sie müssen dort mit mehreren hundert Leuten bis zu zwei Jahre leben. Betrieben wird die Einrichtung vom Innenministerium (Unterabteilung Landesamt für Innere Verwaltung).
  • Horst liegt ganz am Rand von Mecklenburg-Vorpommern, 5km vor der Grenze zu Schleswig-Holstein im ehemaligen Grenzstreifen in einer alten NVA-Kaserne. Horst liegt sehr abgelegen. Vor 30 Jahren lebten in dem Wald zynischerweise noch Wachhunde, die Flüchtlinge aus der DDR in den Westen aufhalten sollten. Das hat uns ein Bewohner der nahe gelegenen Stadt Boizenburg erzählt. Über Boizneburg gibt es auch eine sehenswerte Doku.
  • Die Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende ist dort seit Anfang der 90er. Vorher war die „ZAST“ in Rostock-Lichtenhagen. Wir alle wissen um das Pogrom, wegen dem die Leute dort weg mussten. Dass die Asylsuchenden weggebracht wurden und nicht die Nazis, ist ein schändlicher Teil der Politik der Nachwendezeit.
  • Der Alltag in Horst ist sehr monoton. Es gibt wenig Abwechslung und wenig zu tun.
    Ein Beispiel: Die Leute dort dürfen nicht für sich selbst kochen. Sie müssen jeden Tag zu denselben Zeiten die gleiche öde Kantinenversorgung essen. Der Speiseplan wiederholt sich wöchentlich. Das Essen entspricht ungesunden deutschen Essgewohnheiten: Viel Toastbrot, Nudeln, billiges Fleisch. Einige Eltern haben uns berichtet, dass dieses Essen besonders den Kindern überhaupt nicht schmeckt und sie dadurch viel zu wenig essen.

Das Leben als Kind in Horst

Bei den Mahnwachen in Horst haben wir erlebt, dass dort viele Kinder leben. Sie haben sich über unsere Angebote durchweg sehr gefreut und wirkten so als gebe es wenig Abwechslung im Lageralltag.

Wir möchten euch bitten: Wenn ihr diesen Artikel lest, fragt euch immer wieder „Wie würde es mir selbst in dieser Situation gehen?“. Denn das ist das bestimmende Gefühl, mit dem wir aus Horst wieder nach Hause gefahren sind: Wir wollen dort nicht leben müssen.

Da wir uns im Jahr 2020 vermehrt mit den Kinderrechten und der Kinderrechte-Konvention beschäftigt haben, kamen wir nicht umhin uns auch in der Auseinandersetzung mit Horst genau diese Frage zu stellen:

Wie sieht es mit der Verwirklichung der Kinderrechte in Horst aus?

Hierzu haben wir uns den „Kinderrechte-Check für geflüchtete Kinder“ von Save the Children durchgelesen und versucht deren Kriterien nachzuverfolgen. Save the Children hat in dieser wichtigen neuen Studie festgestellt, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Kinder, die in Unterkünften für Asylsuchende leben, alle ihre Rechte bekommen. Es scheitert oft beim Recht auf Schutz, beim Recht auf Gesundheit, beim Recht auf Bildung und bei den Beteiligungsrechten. Außerdem sind bei vielen Unterkünften die Lage, die Infrastruktur und die Ausbildung des Personals fragwürdig.

Das Kinderrecht auf Schutz

Jedes Kind hat das Recht auf Leben ohne Gewalt, Angst und Bedrohungen. Eltern, Staat und überhaupt alle Beteiligten müssen ihr bestes tun, damit das auch Wirklichkeit wird.

Wir haben zum Beispiel ein 6-jähriges Mädchen getroffen, das von einem anderen Bewohner angegriffen wurde. Das Mädchen war im Krankenhaus. Danach kam es zurück nach Horst. Niemand hat sich darum gekümmert, dass sie und ihre Eltern in eine andere Unterkunft kommen. Sie bleibt mit dem Erlebten allein und muss damit klarkommen am Ort des Angriffs weiterzuleben.

In einer Massenunterkunft wie Horst leben hunderte Menschen. Jede:r von ihnen hat sein:ihr eigenes Päckchen zu tragen: Manche haben Angst vor Abschiebung, Manche haben in der Vergangenheit schlimme Folter erlebt, Manche haben psychische Probleme, für Viele bedeutet die fehlende Privatheit in Horst zusätzlichen Druck. Manchmal entlädt sich all das an der falschen Stelle und kann auch Kinder treffen.

Wir wissen, dass der Großteil des Missbrauchs an Kindern (56%,) in der Familie stattfindet. In Sammelunterkünften wie Horst müssen aber ganze Familien auf engstem Raum zusammenleben. Sie bekommen 1 gemeinsames Zimmer, bei sehr großen Familien vielleicht zwei.

Abschiebungen sind sehr gewaltvolle Momente. Es kommen Polizist:innen in Kampfmontur in ein kleines Zimmer, durchsuchen den Raum und manchmal nach anderen Familienmitgliedern oder Menschen aus anderen Zimmern. Kinder in Horst bekommen solche furchteinflößenden Momente ständig mit, entweder weil sie selbst betroffen sind oder weil sie nachts davon wach werden.

Das Kinderrecht auf Gesundheit

Alle Kinder sollten gesund sein und medizinische Versorgung erhalten. Wir dachten, dass das in Deutschland Standard ist. In Horst haben wir erfahren, dass geflüchtete Kinder die ersten 18 Monate ihres Asylverfahrens keine richtige Krankenversicherung haben. Sorry, aber: WTF?!

Eine Geschichte, die uns sehr irritiert hat, ist, dass Bewohner:innen von Horst nicht selbst einen Krankenwagen rufen dürfen, wenn sie in einer akuten Situation sind. Sie müssen erst den Weg innerhalb der Einrichtung zum nächsten Stützpunkt von Maltesern oder Security gehen, die dann den Krankenwagen rufen. Zeit, die im Notfall für Hilfe verloren geht.

Wie bereits erwähnt, haben sich einige Eltern über das Essen in Horst beklagt: Es gibt nur zu bestimmten Tageszeiten für jeweils eine Stunde Essen in der Kantine. Diese Zeiten decken sich nicht unbedingt mit den Zeiten, in denen die Kinder Hunger haben. Es ist aber verboten Essen für später mit auf die Zimmer zu nehmen. Das Essen hat zudem schlechte Qualität: Toastbrot, Nudeln, billiges Fleisch. Ein Arzt, der mit Pro Bleiberecht zu den Mahnwachen fährt, sagte uns, dass diese Versorgung auf Dauer zu Nährstoffmangel führt. Kinder müssen bis zu 6 Monate in Horst bleiben und bekommen dann jede Woche den gleichen Speiseplan vorgesetzt.

Das leidige Thema Corona. Generell haben wir uns gefragt: Warum müssen die Leute eigentlich auf so engem Raum mit so vielen Anderen zusammenleben? In Sachen Infektionsrisiko ist das sicherlich keine gute Idee.

Das Kinderrecht auf Bildung

Zu diesem Recht gehört der Zugang zu „regulären Bildungsangeboten“ und der Zugang zu Medien und Informationen. Beides besteht in Horst nicht bzw. äußerst mangelhaft.

Die Kinder in den Aufnahmeeinrichtungen wurden durch das Schulgesetz MV von der Schulpflicht ausgeschlossen. Deswegen gehen sie nicht zur Schule. Sie gibt ein Beschäftigungsangebot in Horst, das an Schule erinnert, aber keine ist. Das heißt für die Kinder: Sie bleiben ziemlich lang vom Schulsystem ausgeschlossen. Einige hatten bereits mehrere Monate oder Jahre auf der Flucht keine Schule. Hinzu kommen dann nochmal 6 Monate in Deutschland, wo sie nicht zur Schule gehen können. Diese Verzögerung wird sich auf den Bildungsweg in ihrer Zukunft auswirken.

Pro Bleiberecht bringt zu den Mahnwachen Spenden mit. In den letzten Monaten gab es auch immer Kinderbücherspenden, weil Eltern und Kinder danach gefragt hatten. Wir finden es schade, dass so etwas nicht in Horst selbst gibt. Zum Beispiel eine Bibliothek mit mehrsprachigen Büchern. Die Kinder lernen sehr schnell deutsch und können mit deutschsprachigen Büchern gut üben. Doch es wäre auch wichtig Bücher auf spanisch, englisch, persisch, russisch und arabisch zu haben, damit Eltern ihren Kindern vorlesen können.

Die Versorgung mit Internet ist sehr schlecht. Internet ist aber DER wichtige Informationskanal, um Nachrichten zu bekommen, mit Verwandten zu telefonieren und auch für Beschäftigung (Serien, Spiele) in der Erstsprache der Kinder. Das WLAN ist wohl so schlecht, dass die Leute in den Fluren sitzen müssen, um guten Empfang zu haben. Von unserer Seite gibt es dazu einfach nur Unverständnis und die Frage: Wieviel kostet ein guter WLAN-Repeater? Nicht die Welt.

Das Kinderrecht auf Beteiligung

Im Grunde wissen wir nicht, welche Möglichkeiten der Beteiligung es für Kinder in Horst gibt. Allgemein hatten wir den Eindruck, dass viele Leute dort nicht wissen, welche Behörden für was zuständig sind, wo sie sich bei Problemen beschweren können und dass sie hierüber auch nicht gut informiert werden.

Im Rahmen der Mahnwachen haben wir Infomaterial von verschiedenen Jugendverbänden auf einem Infotisch ausgelegt. Wir hoffen, dass so ein paar Kids bzw. ihre Eltern Beteiligungsmöglichkeiten in der Fläche des Bundeslandes finden – sobald sie erstmal aus Horst raus sind.

Und sonst so?

Wir sind ein Jugendverband und haben deswegen besonders die Situation der Kinder in Horst in den Blick genommen. Pro Bleiberecht hat bereits mehrere andere Themen in die Öffentlichkeit gebracht. Leider reagieren die Verantwortlichen meist nur mit „stimmt nicht“ und setzen sich nicht inhaltlich mit der Kritik von Bewohner:innen auseinander. Hier einige Themen, die in Horst beackert werden sollten:

Wir, die wir diesen Artikel schreiben, sind keine Sozialarbeiter:innen, die die Lage in Horst schlussendlich beurteilen können. Wir denken aber, dass wir als Jugendverband eine Verantwortung haben die Kinder in den Aufnahmeeinrichtungen nicht zu vergessen. Wir denken auch, dass wir als aktive Jugendliche und junge Menschen bei den Falken und damit als Teil der Zivilgesellschaft über Missstände reden müssen, die wir sehen.

Was sich ändern müsste

Alles in allem bleiben für uns zwei ganz grundlegende Forderungen übrig, die wir an dieser Stelle äußern möchten:

Kinder müssen so schnell wie möglich raus aus Horst!

Das heißt nicht „nach 6 Monaten“. Das heißt: Nach zwei Stunden oder nach zwei Tagen. So schnell wie möglich eben. Dass der Staat Menschen lieber in Sammellagern hat, um sie besser verwalten, abschieben und abschrecken zu können, ist KEIN guter Grund jemanden länger als nötig dieser Belastung auszusetzen. Jedes Kind hat das Recht auf Schutz, Gesundheit, Bildung und Beteiligung. Sofort. Ohne Wenn und Aber.

Asylsuchende müssen generell gleichbehandelt werden! Keine Diskriminierung!

Viele Probleme in Horst sind kein Zufall, sondern stehen in den Gesetzen. Dort ist eine Ungleichbehandlung von Asylsuchenden vorgesehen. Das ist undemokratisch. Dass es bis ins Jahr 2020 so ist, zeigt den tief sitzenden Rassismus in unserer Gesellschaft. Das muss aufhören! Alle rassistischen Gesetze abschaffen!

Die politischen Hintergründe

Die Kinderrechtekonvention gilt seit 2010 für alle Kinder in Deutschland. Sie galt lange Zeit nicht für Kinder, die keinen deutschen Pass haben und damit unter das Aufenthaltsgesetz fallen. Das ist institutioneller Rassismus. Lange Zeit waren es die Vertreter:innen der Bundesländer (nicht der Bundesregierung), die verhinderten, dass die Kinderrechte für alle Kinder in Deutschland gelten. Dabei ging es sehr wahrscheinlich um Geld. Denn die Bundesländer zahlen für Unterbringung und verschiedene wichtige soziale Versorgung. Falls ihr euch zu dem Thema belesen wollt, haben wir hier ein paar Lese-Tipps für euch zusammengestellt:

Genossin Tegtmeier von der SPD stellte im April bei einer Besichtigung der Aufnahmeeinrichtung Stern Buchholz fest, dass solche Unterkünfte „für längere Aufenthalte nicht wirklich geeignet sein“. Aus dieser Feststellung der SPD auf Landesebene sollten Taten folgen. Dazu zählt entsprechende Landesverordnungen voranzubringen, die eine sofortige Verteilung aus den Aufnahmelagern in die Kommunen bedeuten. Dazu zählt auch, dass die SPD auf Bundesebene nicht den rassistischen Mist der CDU/CSU mitmacht.

Dieser Mist hat einen Namen: „AnkER-Zentren“. Lorenz Caffier war schon zu Beginn der Debatte stolz darauf, dass die Aufnahmelager in MV bereits wie AnkER-Zentren geführt werden. Nach den jüngsten Enthüllungen um Lorenz Caffier und seine (rein privat, natürlich!) Nähe zu einem rechten Verschwörungsnetzwerk wundert es uns nicht, dass die Asylpolitik in MV nahezu den Ansprüchen der AfD gerecht wird.


* Lager: Für uns ist es seltsam, das Wort Lager hier anders zu verwenden als „Zeltlager“. In Gesprächen mit Bewohner:innen haben wir die Begriffe „Camp“ oder „Heim“ gehört. Wir benutzen das Wort Lager, um an die politische Forderung „No Lager!“ anzuschließen. Verwaltungsbegriffe wie „Unterkunft“ oder „Aufnahmestelle“ drücken nicht die Stimmung aus, die wir vor Ort erlebt haben.
** Asylsuchende: Wir versuchen möglichst respektvoll über die Menschen zu reden, die in Horst wohnen müssen. Wir sind uns bewusst, dass wir nicht über „die“ Asylsuchenden sprechen und nachdenken können, dass wir über Individuen und einzelne Schicksale reden. Wir lehnen den Begriff „Asylbewerber:innen“ ab. Asyl ist ein Grundrecht. Man bewirbt sich nicht darauf. Man hat es.
Vielen Dank für die Bilder von verschiedenen Mahnwachen vor Horst an Bildwerk Rostock (flickr).

Unsere Fahrten nach Horst werden gefördert aus Mitteln aus dem Jugendfonds der Partnerschaft für Demokratie im Landkreis Ludwigslust-Parchim.